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1. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 7

1910 - Berlin : Singer
Einleitung. 1. Germanen und Römer. Bei ihrem Eintritt in die Geschichte, etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung, waren die Germanen noch Barbaren. Sie hausten in einigen zwanzig Völkerschaften zwischen Rhein und Elbe; im Norden war die Nordsee die Grenze, im Suden eine Linie vom Main, etwa bei Hanau, bis zum Einfluß der Saale in die Elbe. Von diesem Gebiete, das 2300 Quadratmeilen umfaßte, kamen ungefähr je hundert auf jede Völkerschaft. Ein sehr großer Teil des Landes war noch von Sumpf und Wald bedeckt: die Bewohner trieben geringen Ackerbau, lebten hauptsächlich von Käse, Milch und Fleisch. Entsprechend diesem Stande der Nahrungsmittelproduktion war die Bevölkerung sehr dünn gesät; mehr als 250 Seelen können nicht wohl auf der Quadratmeile gelebt haben. Höchstens um eine Million herum hat sich die Seelenzahl der germanischen Völkerschaften bewegt. Innerhalb dieser Völkerschaften übte die allgemeine Volksversammlung die höchste souveräne Gewalt aus. Da die Grenzen des Gebietes wegen der feindlichen Ueberfälle unbewohnt blieben, fo war es möglich, daß die 6000 bis 10 000 Männer, über die jede Völkerschaft gebieten mochte, auch von den äußersten Wohnstätten in einem Tagemarsche einen in der Mitte des Gebietes gelegenen Versammlungsplatz erreichen konnten. Diese demokratische Verfassung beruhte auf dem Unterbau der Geschlechter, in die jede einzelne Völkerschaft zerfiel. Die Geschlechter waren Gruppen von Blutsverwandtschaften, die etwa hundert Familien umfaßten und deshalb auch Hundertschaften genannt wurden. Jedes Geschlecht verfügte über ein Gebiet von einer ober auch von einigen Quadratmeilen und wohnte beieinanber in einem Dorfe, das die Form einer tose und weitläufig gebauten Ansiebelung besaß. Bei der Dürftigkeit des Ackerbaues würde der Platz der Anfieblung innerhalb des Gaues, um frischen, ertragreichen Boben zu bestellen, öfter gewechselt. Das beutsche Recht rechnete noch später das Haus nicht zur unbeweglichen, sonbern

2. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 8

1910 - Berlin : Singer
— 8 — zur beweglichen Habe. Wenn die Germanen auch nicht mehr Nomaden waren, so hafteten sie doch nur erst locker am Grund und Boden, der kommunistisches Eigentum war, der Gesamt-heit des Geschlechtes gehörte. Demgemäß war auch das Geschlecht durchaus demokratisch organisiert, alle seine Mitglieder waren freie Leute, verpflichtet, einer des anderen Freiheit zu schützen, gleich in persönlichen Rechten, eine Brüderschaft, verknüpft durch Blutbande. Die Vorsteher der Geschlechter im Frieden, ihre Anführer im Kriege wurden gewählt, blieben aber Gemeinfreie wie alle anderen. Eine Teilung der Arbeit gab es erst in rein naturwüchsiger Form; sie bestand nur zwischen Mann und Frau. Der Mann führte den Krieg, ging fischen und jagen, beschaffte die Rohstoffe der Nahrung und die dazu nötigen Werkzeuge. Die Frau besorgte das Haus, bereitete die Kleidung und Nahrung, kochte und nähte. Die Haushaltung war kommunistisch für mehrere, oft viele Familien. Wenn aber auch nicht innerhalb der Geschlechter, so fanden sich innerhalb der Völkerschaften die ersten Spuren einer Aristokratie. Es liegt im Wesen jeder Beamtenschaft, sich zu einem erblichen Stande zu entwickeln: den Söhnen oon Beamten, die sich im Frieden und namentlich im Kriege ausgezeichnet haben, pflegt ein gewisser Vorzug eingeräumt zu werden, bei sonstiger Befähigung die Nachfolger ihrer Väter zu werden. So hatten sich in jeder Völkerschaft über die Masse der Gemeinfreien eine oder einige Familien erhoben, die durch Beuteanteile, Tribute, Geschenke usw. einen in den Augen der Germanen großen Reichtum erworben hatten. Dadurch wurde es ihnen ermöglicht, sich ein Gefolge zu halten, freie Männer, die tapfersten Krieger, die sich ihrem Herrn auf Leben und Tod verpflichteten und als feine Hausgenossen um ihn lebten. Aus diesen Familien pflegten die „Vordersten", die „Fürsten" gewählt zu werden, um innerhalb der Völkerschaft im Frieden Gericht zu halten oder im Kriege über sie den Oberbefehl zu führen. Doch hatten sie darauf keineswegs einen rechtlichen Anspruch; die entscheidende Instanz innerhalb jeder Völkerschaft blieb die allgemeine Volksversammlung. Dagegen trug diese Aristokratie mit ihren Gefolgschaften, die nur durch immer neue Beute zusammengehalten werden konnten, mit dazu bei, den gewalttätigen und räuberischen Charakter zu verstärken, der den Germanen, wie allen Barbaren, eigen war. Ihre Einfälle in die Provinzen des römischen

3. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 9

1910 - Berlin : Singer
— 9 — Weltreichs riefen überhaupt erst in den Römern den Entschluß hervor, das rauhe und unwirtliche Land, das sie sonst wenig lockte, unter ihre Botmäßigkeit zu bringen. Allein die Römer scheiterten an der ungebrochenen Naturkraft dieser Barbaren, die im reichsten Maße über die beiden Quellen kriegerischer Kraft geboten: über die höchste persönliche Tapferkeit des einzelnen Kriegers, die sich in dem rauhen Naturleben, im steten Kampf mit wilden Tieren und Nachbarstämmen stählte, und in dem taktischen Zusammenhalt der einzelnen Krieger, der durch die kommunistische Lebensweise der Germanen, der dadurch geschaffen wurde, daß bei ihnen Geschlecht und Nachbarschaft, Kriegskameradschaft und Wirtschaftsgenossenschaft ein und dasselbe war. Von der militärischen Disziplin der Römer hatten die Germanen nicht einmal eine Ahnung; der Begriff des soldatischen Gehorsams war ihnen völlig fremd. Aber die Natureinheit, in der sie lebten, der innere Zusammenhang der Gevierthaufen, in denen sie kämpften, das gegenseitige Sich-aufeinander-Ver-lassen, das die moralische Kraft gibt, erwiesen sich als unüberwindlich, selbst für die sturmerprobten Legionen Roms. In den Septembertagen des Jahres 9 u. Z. vernichteten die Germanen unter Führung des Cheruskerfürsten Armin in einer dreitägigen furchtbaren Schlacht, der Schlacht im Teutoburger Walde, das römische Heer des Statthalters Quintilius Varus. Um die Schmach dieser Niederlage zu rächen und trotz alledem die germanischen Völkerschaften zu unterwerfen, unternahmen die Römer einige Jahre später noch drei Feldzüge, im Vertrauen darauf, daß sie mit ihren gewaltigen Heeren und ihren ungleich besseren Waffen das kleine Volk dennoch unterwerfen würden. In der Tat vermochten ihnen die Germanen nicht in offener Feldschlacht zu widerstehen, aber wenn sie nach dem treffenden Worte des römischen Geschichtsschreibers Tacitus in Schlachten nicht mehr siegreich waren, so blieben sie doch unbesiegt im Kriege. Sie ermatteten die römischen Heere durch einen Kleinkrieg, wobei die unwegsame Wildnis ihres Landes sie aufs wirksamste unterstützte, und endlich gaben die Römer ihre Angriffe auf. Die Germanen blieben frei, nicht sowohl weil es für das römische Weltreich eine absolute Unmöglichkeit gewesen wäre, sie schließlich zu bezwingen, als weil diese Bezwingung ungeheure Opfer gekostet haben würde, die Rom bei dem Zustande inneren Verfalles, in den seine Weltherrschaft trotz allen äußeren Glanzes bereits getreten war, nicht mehr zu bringen wagte.

4. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 10

1910 - Berlin : Singer
Denn nachdem sich der römische Staat alle Länder um das Mittelmeerbecken herum unterworfen hatte, war er eine riesige Ausbeutungsmaschine geworden, die durch ihre Staatsfronen und Steuern die Masse der Bevölkerung in immer tiefere Armut drückte. Er begründete sein Existenzrecht auf die Erhaltung der Ordnung nach innen und den Schutz gegen die Barbaren nach außen. Aber seine Ordnung war schlimmer als die schlimmste Unordnung, und die Barbaren, gegen die er die römischen Bürger zu schützen versprach, wurden von diesen als Retter ersehnt. Die rücksichtslose Erpressung der Beamten erstickte, was an Handel und Industrie im römischen Reiche vorhanden war, und das Endergebnis der römischen Weltherrschaft lief hinaus auf allgemeine Verarmung, Rückgang des Verkehrs, des Handels, der Kunst, Verfall der Städte und namentlich Rückkehr des Ackerbaues auf eine niedrigere Stufe. Der Ackerbau bildete im Altertum die entscheidende Produktionsweise. Die römische Bauernklasse, die in endlosen Kriegen die römische Weltherrschaft errungen hatte, war in diesen Kriegen dahingeschmolzen. In Italien hatten sich ungeheure Güterkomplexe zusammengeballt, die sogenannten Latifundien, die von Sklaven bewirtschaftet wurden: entweder als Viehweiden, wo die bäuerliche Bevölkerung durch Ochsen und Schafe ersetzt war, oder als ungeheure Güter, die ihren Absatz auf den städtischen Märkten suchten. Mit dem Verfall des allgemeinen Wohlstands rentierte diese auf Sklavenarbeit gegründete Latifundienwirtschaft nicht mehr, die damals die einzig mögliche Form des großen Ackerbaues war. So muhte man auf den kleinen Ackerbau zurückgehen. Die großen Güter wurden in Parzellen zerschlagen und an Kolonen ausgetan, die dafür einen bestimmten Betrag bezahlten, an die Scholle gefesselt waren und mit ihrer Parzelle verkauft werden konnten; sie waren zwar keine Sklaven, aber auch nicht frei, die Vorläufer der mittelalterlichen Leibeigenen. Die antike Sklaverei ist nicht am Christentum gestorben, das sich in alter und neuer Zeit sehr gut mit der Sklaverei zu vertragen gewußt hat. Sie ging vielmehr daran unter, daß sie sich ökonomisch nicht mehr rentierte. Aber sterbend hinterließ sie ihren giftigen Stachel, indem sie alle produktive Arbeit als Sklaventätigkeit, als freier Bauern unwürdig erscheinen ließ. Aus dieser Sackgasse gab es für die antike Kultur keinen Ausweg; die Sklaverei war ökonomisch unmöglich geworden, allein die produktive Arbeit der Freien blieb

5. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 11

1910 - Berlin : Singer
— 11 — moralisch geächtet. So ging das römische Weltreich im letzten Grunde an der Sklaverei unter. Es wurde immer hilfloser gegen die Einfälle der Barbaren, bis es im 5. Jahrhundert u. Z. in die Gewalt der germanischen Heere fiel, die, verhältnismäßig gering an Zahl, die ungeheuren Ländermassen überwältigten, um nunmehr eine absterbende Kultur zu verjüngen. 2. Die germanisch-romanischen Staaten. Die Aufgabe, die den germanischen Völkerschaften bei ihrem Einbruch ins römische Weltreich gestellt war, der Ostgoten in Italien, der Westgoten in Spanien, der Burgunder, später Franken in Gallien, der Vandalen in Afrika, bestand darin, mit den einfachen Mitteln ihrer Geschlechterverfassung eine Gesellschaft zu beherrschen, die auf einer ungleich höheren, wenn auch noch so verfallenen Stufe der Produktionsweise stand. Diese Aufgabe erwies sich als unlösbar, denn der altgermanischen Verfassung fehlten alle Organe der Herrschaft. Vielmehr stürzten die germanischen Völkerschaften aus einem Zustande durchgehender Gemeinfreiheit und gering entwickelten Adels unmittelbar in einen Abgrund uralter gesellschaftlicher Zersetzung. Diese Kluft verschlang die Klasse der Gemeinfreien, wie sie auf der kommunistischen Grundlage der Geschlechteroerfassung bestanden hatte. Die erobernden Germanen beanspruchten in Italien ein Drittel, in Gallien und Spanien zwei Drittel des gesamten Landes, und sie verteilten es zunächst ganz im Sinne ihrer bisherigen Verfassung. Sie waren so sehr an die kommunistische Wirtschaft gewöhnt, daß selbst im spanischen Westgotenreiche, wo sich das germanische Wesen am ehesten verflüchtigte, der germanische Eroberer seine zwei Drittel nur für die Aecker mit dem römischen Resteigentümer des letzten Drittels teilte, dagegen mit ihm im Gemeineigentum cm Wald,-Wasser und Weide blieb. Jedoch die verhältnismäßig geringe Zahl der Eroberer führte zu ihrer räumlichen Trennung über die ganzen Provinzen, wobei noch sehr große Strecken des Landes unbesetzt blieben; der verwandtschaftliche Charakter des Geschlechts lockerte sich mehr und mehr, und auch die Versammlung der Freien als entscheidende Instanz in allen gemeinsamen Angelegenheiten ging auf diese Weise unter. Dies wurde um so verhängnisvoller, als gleichzeitig der Schutz der neuen Reiche gegen auswärtige Feinde die schnelle

6. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 12

1910 - Berlin : Singer
— 12 — Umwandlung des von der Volksversammlung erwählten Heerführers in einen König mit weitgehenden Befugnissen erheischte. Seine Organe fand das neue Königtum in seinem Kriegsgefolge, in den aristokratischen Elementen der unterworfenen Bevölkerung, deren Besitz und Kenntnisse ihm unentbehrlich waren, in den Sklaven und Freigelassenen seines Hofstaates. Es stattete sie mit den großen Strecken Landes aus, die bei der Verteilung des Bodens unbesetzt geblieben waren. Damit entstand ein neuer, volksfremder Adel, der auf großem Grundbesitze beruhte und sehr bald durch seine ökonomische Macht aus einem Diener zum Herrn des Königs erwuchs. Je höher dieser Adel stieg, um so tiefer sank die Masse der Bauern. Als Kern des Heeres wurden die Bauern durch die ewigen Bürger- und Eroberungskriege ruiniert, ganz wie einst die römische Bauernklasse, und bald suchten sie den Schutz, den sie beim Könige nicht fanden, bei den großen Grundherren. Ihnen übertrugen sie ihr Eigentum und erhielten es zurück als Zinsgut unter verschiedenen und wechselnden Formen, stets aber nur gegen Leistung von Abgaben und Diensten; aus dieser Abhängigkeit ergab sich nach und nach, und meist sehr bald, auch der Verlust der persönlichen Freiheit. In solcher Art entwickelten sich die Dinge vom 5. bis zum 9. Jahrhundert, und es könnte scheinen, als seien diese vier Jahrhunderte mit all ihrem Blut und Brand, mit all ihren kolossalen Zerstörungen ganz spurlos vorübergegangen, als hätte im 9. Jahrhundert nahezu dieselbe Gesellschaft bestanden wie im 5. Jahrhundert, mit den Hauptklassen großer Grundbesitzer und abhängiger Kleinbauern. Allein wenn diese Klassen äußerlich ziemlich gleich erschienen, so waren doch die Menschen, die sie bildeten, ganz andere. Verschwunden war die antike Sklaverei, verschwunden das freie Lumpenproletariat, das die Arbeit als sklavisch verachtete. Die Gesellschaftsklassen des 9. Jahrhunderts hatten sich nicht in der Versumpfung einer untergehenden Zivilisation, sondern in den Geburtswehen einer neuen Kultur gebildet. Die neue Gesellschaft, Herren wie Diener, war ein Geschlecht von Männern, verglichen mit seinen römischen Vorgängern. Das Verhältnis von mächtigen Grundherren und dienenden Bauern, das für die antike Welt die letzte Stufe des Unterganges gewesen war, wurde nunmehr die erste Stufe einer neuen Entwickelung. Unproduktiv, wie diese vier Jahrhunderte erscheinen mögen, hinterließen sie doch e i n großes Produkt: die modernen

7. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 13

1910 - Berlin : Singer
— 13 — Nationalitäten, eine neue Gliederung der Menschheit für ihre kommende Geschichte. Ferner hatten die Germanen eine hoffnungslos absterbende Zivilisation verjüngt durch ihre persönliche Tapferkeit und Tüä-tigkeit, durch ihren Freiheitssinn und ihren demokratischen Instinkt, der in allen öffentlichen Angelegenheiten nur seine eigenen Angelegenheiten sah, kurz durch alle die Eigenschaften, die den Römern abhanden gekommen waren, aber die allein aus dem Schlamm der römischen Welt neue Staaten und neue Nationalitäten zu schaffen vermochten. Sie hatten die antike Form der Ehe umgestaltet, die Männerherrschaft in der Familie gemildert, der Frau eine höhere Stellung gegeben, als die Griechen und Römer sie gekannt hatten. Sie hatten wenigstens in den wichtigsten Ländern, in Deutschland, Nordfrankreich und England, ein Stück ihrer alten Verfassung in der Form der Markgenossenschaft in den feudalen Staat gerettet und damit der unterdrückten Klasse, den Bauern, selbst unter der härtesten mittelalterlichen Leibeigenschaft einen örtlichen Zusammenhang und ein Mittel des Widerstandes gegeben, das die antiken Sklaven nicht gekannt hatten. Endlich aber war die mittelalterliche Hörigkeit und selbst Leibeigenschaft nicht nur an sich eine mildere Form der Knechtschaft als die antike Sklmierei, sondern dieser namentlich dadurch überlegen, daß die Hörigen oder Leibeigenen eine Klaffe bildeten, wodurch sie befähigt wurden, einen nach und nach erfolgreichen Kampf um ihre Emanzipation zu führen. Alle Sklavenaufstände des Altertums sind hoffnungslos gescheitert. Der Haupthebel dieser Umwälzung des römischen Weltreichs in eine Anzahl germanisch-romanischer Staaten war nun die christliche Kirche. Sie lehrte die Germanen und leitete sie an, sich der römischen Produktionsweise zu bemächtigen, und die christliche Kirche besaß allein diese Fähigkeit. In ihrem Ursprünge war die christliche Religion weder eine überirdische Offenbarung, wie ihre Gläubigen sagen, noch ein Machwerk von Betrügern, wie bürgerliche Aufklärer oft genug behauptet haben. Sie war vielmehr als Welt-religion ein Produkt der griechisch-römischen Welt; ihre Glaubenslehren finden sich fast alle bei dem jüdischen Schriftsteller Philo, der in feinen zahlreichen Schriften religiöse Ueberlieferungen des Judentums mit griechischer Philosophie verschmolz, und ihre Sittenlehren fast alle bei dem römischen Philosophen Seneca, der Armut, Enthaltsamkeit und Tugend

8. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 14

1910 - Berlin : Singer
— 14 — predigte, dabei freilich die rechte Hand des berüchtigten Kaisers Nero war und ein übel erworbenes Vermögen von 60 Millionen Mark hinterließ. Die erste Gestalt der christlichen Religion kann man in der Offenbarung Johannis erkennen, der ältesten Schrift des Neuen Testaments, mit ihrem verworrenen Fanatismus, mit ihrer Moral der Fleischesabtötung, mit ihren Prophezeiungen und Visionen. Wie diese geistigen Strömungen aus der allgemeinen Erschlaffung und Verzweiflung entstanden waren, die sich in dem entsetzlichen Verfall des römischen Weltreichs der Gemüter bemächtigt hatten, so wirkten sie darauf zurück, namentlich auf alle diejenigen, die sich nicht in den allerordinärsten sinnlichen Genuß flüchten konnten oder wollten, sondern, an der materiellen Rettung verzagend, eine geistige Erlösung als Ersatz suchten, einen Trost im Bewußtsein, der sie vor gänzlicher Vernichtung bewahrte. Es begreift sich, daß diese Sehnsucht in denjenigen Schichten der Gesellschaft, die im tiefsten Elend verkamen, am lebhaftesten erwachte, also am stärksten unter den Sklaven. Indem das Christentum aus alle Zeremonien verzichtete, indem es das allgemein verbreitete Gefühl, daß die Menschen am allgemeinen Verderben selbst schuld seien, als Sündenbewußtsein jedes einzelnen zum klaren Ausdruck brachte und gleichzeitig mit dem Opfertode seines Stifters eine überall leicht erschliche Form der allgemein ersehnten inneren Erlösung von der verderbten Welt lieferte, bewährte es seine Fähigkeit, Weltreligion zu werden. Die ersten Christen flüchteten aus dem Jammer der Gegenwart in die Hoffnung der Zukunft, in die Erwartung eines tausendjährigen Reiches, das Christus aus Erden errichten würde. Sie stellten sich das tausendjährige Reich in sehr irdisch-sinnlicher Weise vor; die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte verschmähten nicht, die Freuden der Liebe und des Weins zu schildern, die in diesem Reiche herrschen würden. Erst als die christliche Religion aufhörte, der Glaube der Unglücklichen und Unterdrückten zu fein, als sie der Glaube der Mächtigen und Reichen wurde, geriet der Chiliasmus, d. H. die Erwartung eines tausendjährigen Reichs auf Erden, bei der offiziellen Kirche in Mißkredit. Sie spürte darin einen revolutionären Beigeschmack und verlegte nun der Sicherheit wegen das Reich der Seligen in die Wolken. Jedoch so sehr die Hoffnungen auf das tausendjährige Reich die ersten Jahrhunderte des Christentums beherrschten.

9. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 15

1910 - Berlin : Singer
— 15 — so haben doch nicht sie dem Christentum den Sieg verschafft, sondern vielmehr seine tatkräftigen Versuche, dem größten sozialen Uebel des versinkenden Weltreichs abzuhelfen, dem Druck der Massenarmut. Die christlichen Gemeinden versuchten sich zunächst auf kommunistischer Grundlage zu organisieren, doch scheiterten diese Versuche schon daran, daß sich der vorchristliche Kommunismus nur auf die Konsumtion, nicht aber auf die Produktion erstreckte; die Aechtung der produktiven Arbeit durch die Sklavenwirtschaft wirkte auch darin nach, daß die ersten Christengemeinden sich gar nicht ums Produzieren kümmerten. Hätten sie aber auch daran gedacht, so war das Privateigentum an den Produktionsmitteln für die damalige Zeit eine absolute Notwendigkeit, die dem urchristlichen Kommunismus ein schnelles Ende bereitete, obgleich die älteren Kirchenväter noch sehr häufig und sehr heftig gegen den Reichtum und die Ungleichheit des Besitzes gepredigt haben. Immerhin — wenn das Christentum das Problem der Massenarmut nicht lösen, die Ungleichheit des Besitzes nicht aufheben konnte, so hat es in seinen Anfängen doch viel für die praktische Eindämmung der Massenarmut getan, was nicht zum wenigsten seinen weltgeschichtlichen Erfolg gesichert hat. Allein wenn sich die neue Religion durch das Scheitern des urchristlichen Kommunismus als unfähig erwies, die Klassengegensätze ihrer Zeit zu überwinden, so entwickelte sie aus sich selbst einen neuen Klassengegensatz. Aus der uneingeschränkten Selbstverwaltung der ersten Christengemeinden erwuchs dadurch, daß sie an Macht und Reichtum zunahmen, eine herrschende Klasse, die Geistlichkeit, der die Klasse der Gemeindeglieder nach und nach botmäßig wurde. Die Armen und Elenden, aus denen sich die ersten Gemeinden rekrutierten, besaßen nicht die Einsicht und die Kraft, ihre demokratische Verfassung zu bewahren; die Bischöfe wurden immer unabhängiger von ihren Wählern, -und schon im 3. Jahrhundert stand den Gemeinden fast überall nur noch das Recht zu, die Kirchenbeamten zu bestätigen. Die Geistlichkeit hatte sich als geschlossene Körperschaft organisiert, die sich selbst ergänzte und nach ihrem Gutdünken über das Kirchenvermögen verfügte. Hand in Hand damit ging eine immer engere Zusammenschließung der einzelnen Gemeinden, die ursprünglich völlig selbständig gewesen waren, zu einem großen Verein, der Gesamtkirche. Gleiche Anschauungen, gleiche Ziele, gleiche Ver-

10. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters - S. 16

1910 - Berlin : Singer
— 16 — folgungen veranlaßten schon früh die einzelnen Gemeinden, durch Abgeordnete und Sendschreiben mit einander zu verkehren; gegen Ende des 2. Jahrhunderts bildeten die Kirchen einzelner Provinzen bereits festere Vereinigungen, deren oberste Instanzen Kongresse ihrer Vertrauensmänner, Synoden der Bischöfe, waren, und im Jahre 325 fand schon die erste Reichssynode in Nicäa statt. Innerhalb der Synoden selbst herrschten diejenigen Bischöfe, die die mächtigsten und reichsten Gemeinden vertraten, und so kam schließlich der Bischof von Rom an die Spitze der Christenheit. Diese ganze Entwickelung vollzog sich nicht ohne große Kämpfe gegen die Staatsgewalt, die den neuen Staat im Staate nicht aufkommen lassen wollte, Kämpfe zwischen den einzelnen Organisationen und innerhalb der einzelnen Organisationen, Kämpfe zwischen Geistlichkeit und Volk, bei denen gewöhnlich die Geistlichkeit den Sieg davontrug. Aber in diesen Kämpfen wurde die christliche Kirche diejenige Organisation im römischen Reiche, die alles in sich zusammenfaßte, was die antike Welt noch an Intelligenz und Tatkraft enthielt, und nachdem sie sich im Kampfe mit der Staatsgewalt als unbesiegbar erwiesen hatte, begann sie sich selbst die Staatsgewalt zu unterwerfen. Im Beginn des 4. Jahrhunderts fand bereits ein schlauer Kronprätendent, daß demjenigen der Sieg winke, der den Christengott sich günstig stimme, mit anderen Worten, der sich mit der christlichen Geistlichkeit verbände, und durch den Kaiser Konstantin wurde das Christentum zur herrschenden Religion im römischen Reiche. Von nun an wuchs das Kirchenvermögen erst recht an; die Kirche wurde enorm reich und die Geistlichkeit völlig unabhängig von der Masse der Gläubigen. Im gleichen Maße aber hörte die Geistlichkeit auf, das Kirchenvermögen im Interesse der Armen zu verwalten und vergeudete es für ihr Wohlleben. Damit diese Seelenhirten nicht das ganze Kirchengut für sich verpraßten, wuräe im 5. Jahrhundert festgesetzt, daß wenigstens der vierte Teil des kirchlichen Einkommens den Armen verbleiben solle, während von den anderen drei Vierteilen eines dem Bischöfe, das zweite seiner Geistlichkeit und das dritte den Kultusbedürfnissen zufallen solle. Gleichwohl galt im Prinzip und in der Theorie das Kirchengut als Eigentum der Armen, als patri-monium pauperum; der kommunistische Ideengehalt des Christentums ließ sich nicht völlig ersticken, so lange die sozialen Zustände dauerten, die ihn erzeugt hatten.
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